In den 1980er Jahren wurden in einer US-amerikanischen Studie Patienten mit Rückenbeschwerden mit dem Ziel untersucht, die häufigste Ursache von Rückenbeschwerden herauszufinden. Weder Beruf noch sportliche Betätigung, weder Alter noch Geschlecht konnten signifikant als Ursache von Rückenbeschwerden ausgemacht werden. Die meisten Patienten mit Rückenschmerzen hatten jedoch eine Schwäche bzw. einen Schwund der tiefen Rückenmuskeln aufzuweisen. Als tiefe Rückenmuskeln bezeichnet man die Muskeln, die direkt zur Wirbelsäule gehören, also von außen gesehen, unter den oberflächlichen Rückenmuskeln liegen und wichtig für die Haltung und Stabilisierung der Wirbelsäule sind. Bedingt durch die Schwäche der tiefen Muskeln werden die Bandscheiben und die Gelenke der Wirbel zu stark belastet – mit den bekannten Folgen. Doch für eine gute Kraftentwicklung ist nicht nur der Muskel alleine zuständig, sondern auch das den Muskel steuernde Nervensignal darf nicht beeinträchtigt sein. Und dieses kann nur dann störungsfrei sein, wenn der sensomotorische Regelreis intakt ist.
Doch warum sind unsere tiefen Rückenmuskeln häufig so schwach? Nun, das hängt mit unserer evolutionären Entwicklung zusammen. Unsere Rückenmuskulatur ist eigentlich für die Stabilisierung einer Brücke (beim Vierfüßergang) und nicht für die Stabilisierung eines Segelmastes (beim aufrechten Gang) konstruiert. D.h. es bedarf eines speziellen Trainings dieses wieder auszugleichen. Meist werden bei sportlicher Betätigung jedoch nur die oberflächlichen Muskeln, die für die Beweglichkeit der Wirbelsäule wichtig sind, trainiert und nicht die tiefen, kurzen Muskelfasern zwischen Quer- und Dornfortsatz.
Was ist Sensomotorik und was bedeutet sie für unseren Bewegungsapparat?
Die Sensomotorik umfasst alle eingehenden Informationen, seien es Informationen von außen (z.B. Sehen, Hören, Gleichgewicht), aber auch Informationen aus dem Körperinneren wie der Längenzustand unserer Muskeln und Sehnen oder die Stellung unserer Extremitäten. Die Sensomotorik ist die Grundlage unsere Haltungs- und Bewegungssteuerung. Die Muskeltonussteuerung, d.h. die Steuerung der Muskelspannung, erfolgt dabei über den Abgleich von Informationen aus den verschiedenen sensomotorischen Regelsystemen.
Bereits geringe Störungen im Regelkreis unseres Nervensystems führen zu Beeinflussungen der Psyche, des Nervensystems, der Muskulatur und des Skeletts.
Steuerung der Körperhaltung
Die Haltungssteuerung basiert auf zwei Steuerungssystemen. So setzt sich die Kopfsteuerung aus dem räumlichen Sehen mit beiden Augen, dem Gleichgewichtssinn, dem Nackenfeld sowie dem Kiefergelenk und dem Biss zusammen.
Die Füße sind die Basis unserer Haltungssteuerung, gewissermaßen unsere Erdung. Dieses aktive, sensomotorische Greiforgan beeinflusst über aufsteigende Muskel-kettenreaktionen ebenfalls unsere Körperhaltung.
Wie funktioniert das?
Die Wahrnehmung der Stellung und Bewegung des eigenen Körpers („Proprioception“) erfolgt reflexartig über spezifische Strukturen an der Fußsohle mit Weiterleitung an Rückenmark und Kleinhirn. Über Muskelspindeln, Golgi-Sehnen-Organe, Mechanorezeptoren (Sinneszellen, die mechanische Reize erfassen), Gelenkrezeptoren sowie freie Nervenendigungen werden die Reizinformationen des Fußes zur Bewegungskoordination erfasst, die dann über verschiedene Nervenfasern an das Zentrale Nervensystem (ZNS: Rückenmark und Gehirn) weitergeleitet werden.
(sh. Abb. unten: Anatomische Strukturen des neuro-muskulo-skelettalen Systems)
Die Hauptaufgabe der Muskelspindeln liegt in der Rückmeldung der jeweiligen Längen-, Lage- und Spannungsänderung der Muskulatur an das ZNS. Muskelspindeln und Golgi-Sehnen-Organe sind für die Regelung der Muskelspannung entscheidend. Von ihnen werden Informationen über Längen-, Lage- und Spannungsänderung der Muskulatur an das ZNS weitergeleitet. Funktionell ist diese gegenseitige Wechselwirkung als Balanceakt der neuronalen Ansteuerung zu sehen.
In den Gelenkkapseln, den Sehnen und Bändern und in der Haut sind ebenfalls Rezeptoren, welche die Lage der Gelenke melden oder Zug- oder Druckkräfte übermitteln. Diese Rezeptoren im Körperinneren werden durch die Sinnesorgane, d.h. durch räumliches Sehen, Gehör und Gleichgewichtssinn, ergänzt. Weitere Rezeptoren sind für die Kontrolle des Kopfes im Bereich des Übergangs zwischen Halswirbelsäule und Kopf, die Funktion der Kiefergelenke sowie der inneren Organe wichtig.
Die sensomotorische Steuerung wird also aus dem Abgleich innerer und äußerer Signale stets von zentralen Kontrollmechanismen situativ angepasst und in eine, vorausgesetzt es liegt kein Muskelschwund vor, adäquate Bewegung von Muskeln und Knochen umgesetzt.
(sh. Abb. unten: Sensomotorische Steuerung durch das Zusammenspiel der Systeme, modifiziert nach Gollhofer)
Sensomotorische Fehlsteuerungen
Sensomotorische Fehlsteuerungen lösen im System von Muskeln und Skelett (muskulo-skelettales System) Schmerzen und Fehlbelastungen aus, wodurch langfristig strukturelle Störungen entstehen. Der amerikanische Zahnarzt Harold Gelb hat dies in dem Schlagwort „form follows function“ (Die Gestalt folgt der Funktion) kurz und prägnant zusammengefasst.
Die überwiegende Mehrzahl der Beschwerden des Bewegungsapparates spielen sich im Muskel- und Bindegewebe ab. Die meisten dieser Beschwerden sind funktionell bedingt, d.h. anatomisch können über die bildgebenden Verfahren keine Gründe für die Beschwerden ausgemacht werden. Dies erklärt die eingangs erwähnte häufig festzustellende Diskrepanz zwischen Befund des CTs (Computertomatographie), NMRs (NMR-Spektroskopie, NMR = nuclear magnetic resonance) oder Röntgenbildes und den Beschwerden der Patienten in der täglichen Praxis.
Symptome bei sensomotorischer Fehlsteuerung
Symptome funktioneller Beschwerden bedingt durch sensomotorische Fehlsteuerungen sind z.B. eine Fehlstatik der Wirbelsäule, wie z.B. eine seitliche Verbiegung der Wirbelsäule, kombiniert mit einer Rotation des Beckens, Schulter- und Beckenschiefstand, eine Verdrehung bzw. Verwringung des Beckens oder Beckenverkippung. Weitere Symptome können unspezifische Rückenschmerzen, Schmerzen an oder in der Wirbelsäule, Rückenschmerzen nach oder trotz Bandscheibenoperation (sog. Postnukleotomiesyndrom) oder muskuläre Verspannungen sein. Spannungskopfschmerzen, chronische Schmerzen im Nacken, Triggerpunkt-schmerzen (Schmerzen im Muskel an typischen Stellen) oder auch chronische Kreuzschmerzen sind ebenfalls häufig anzutreffen. Reizzustände an der Hüfte, Knie-scheibe oder an der Fußsohle sind nicht selten Ursache einer funktionellen Störung.
Durch sensomotorische Fehlsteuerung ausgelöste strukturelle Störungen:
- Fehlstatik
- muskuläre Dysbalance
- Spannungskopfschmerz
- Triggerpunktschmerzen
- Funktioneller Beckenschiefstand
- Reizzustand des Muskels, der Sehnen und Gelenke
Weitere Ursachen von Rückenschmerzen
Neben der gestörten Sensomotorik, insbesondere der tiefen autochtonen Rückenmuskeln, der Propriozeption über die Fußsohlen, gilt es nach Ansicht des Orthopäden Dr. Strauß Störfelder im Sinne der Neuraltherapie zu beachten: „Störfelder im Nasen-Rachenraum (Nasen-Nebenhöhlen, Rachenmandeln und Zähne), im Bauchbereich, im Unterleib sowie Narben müssen beachtet werden. Für den Patienten nicht immer wahrnehmbare Störfelder im Nasen-Rachen-Zahnbereich induzieren Verspannungen der Nackenmuskulatur und lösen damit Atlasfunktionsstörungen aus. [Anm. d. Red.: Atas = 1. Halswirbel] Über die Muskelkette und Gleichgewichtsgegensteuerungen kommt es fast stereotyp zu einer Skoliose der Wirbelsäule. Die funktionelle Fehlstellung landet damit im Beckenbereich mit Verwringung und führt weiter zur Fehlstellung der Beine. Diese sensomotorischen, myofascialen Störungen werden insgesamt als Rückenschmerz wahrgenommen.
Jeder chronische Rückenschmerzpatient muss daher grundsätzlich ganzheitlich, im wahrsten Sinne des Wortes, betrachtet werden. Eine Reduzierung der Betrachtungsweise alleine auf den Bereich des Bewegungsapparates würde diesen Patienten nicht gerecht werden. Das heißt, neben der orthopädisch, manuellen Funktionsdiagnostik müssen durch geeignete Untersuchungstechniken, z.B. kinesiologische oder neuraltherapeutische Testung, Störfelder, die überall im Körper liegen können, diagnostiziert und behandelt werden.
Auch Funktionsstörungen der inneren Organe können zu neuromuskulären Fehlsteuerungen im Bewegungsapparat führen.“
Auch der Kinderarztes Dr. Scheel weist auf den Bezug von Rückenschmerzen zu inneren Organgen hin: "Leider wird bei der Diagnostik von akuten wie chronischen Rückenschmerzen sehr oft nicht erkannt, dass sich entzündliche und andere Veränderungen der Nieren bzw. Harnwege bzw. des Urogenitaltraktes dahinter verbergen - und nur deshalb, weil wegen unauffälliger Laborwerte (Blut- und Urin) fälschlicherweise davon ausgegangen wird, dass eben die Nieren oder Harnwege oder Urogenitalbereiche gesund sind. Das stimmt eben leider nicht. Somit ist auch bei der Diagnostik von Rückenschmerzen darauf zu achten, dass mit allen auch naturheilkundlich verfügbaren Diagnostikmethoden definitiv für die Schmerzen ursächliche Faktoren im Nieren- Harnwegs- oder Urogenitalbereich ausgeschlossen werden."
Darüber hinaus spielen aus Sicht von Dr. Scheel noch folgende Faktoren bei der Entstehung von Rückenschmerzen eine Rolle:
- "Auch eine immer erforderlich ganzheitliche Diagnostik wird oft keine körperlichen Befunde erbringen, weil ein beachtlicher Teil auch der Rückenschmerzen psychosomatisch, also primär "seelisch" bedingt ist. Die Formulierung "etwas nicht mehr ertragen zu können" ist ja allgemein bekannt. Eine Beurteilung der psychischen Situation des Patienten ist insoweit sehr wichtig, weil oft die Betreffenden die körperlichen Beschwerden im Rückenbereich sehr oft nicht in Verbindung mit ihren - oft über längere Zeiträume angehäuften seelisch-geistig-sozialen usw. Problemen bringen.
- Sehr wichtig für Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen ist weiterhin die Beachtung der sogenannten "Headschen Zonen". Das sind Hautareale, in denen über das entsprechende Rückenmarkssegment laufende Querverbindungen zwischen dem somatischen und vegetativen Nervensystem bestehen. So können im Rückenbereich massive Schmerzen empfunden werden, die aber eigentlich ihre Ursache im Bereich der jeweiligen Bauchorgane haben. Die Kenntnis dieser Hautareale in ihrer Beziehung zu den inneren Organen ist natürlich dringend für eine gute Diagnostik erforderlich wie logischerweise im Umkehrschluss nutzbar im Sinne einer Reflexzonen-Therapie."