Die geheime Sucht nach Stress 

Zu viel belastender Stress macht krank und unglücklich. In diesem Beitrag geht die Psychologin Dr. Ilona Bürgel der Frage nach, wieso es trotz dieser Erkenntnis nur wenigen Menschen gelingt, ungesunden Stress drastisch zu reduzieren – und hat dabei die „Stresssucht“ als einen Faktor ausgemacht.

Stress und Burnout sind großen Themen in unserer Gesellschaft. Dass die meisten lieber weniger Stress hätten, zeigt schon, dass „weniger Stress haben“, bei den guten Vorsätzen zum neuen Jahr immer wieder auf Platz 1 zu finden ist. Offensichtlich leiden also viele Menschen unter Stress – und bekommen ihn Jahr für Jahr nicht richtig in den Griff.

Vielleicht ist es ja eine regelrechte Hass-Liebe. oder gar eine Art Abhängigkeit, die uns im Stress verharren lässt.

Schauen wir uns doch das Thema Stress etwas näher an:

Stress ist nicht gleich Stress

Jeder von uns kennt das: Wenn eine Arbeit gut von der Hand geht und uns Spaß macht, nehmen wir gern in Kauf, dass es vielleicht gerade etwas viel ist. Im Gegenteil: Wir gewinnen sogar etwas daraus. Auch bei einem aufregenden Fußballspiel, an dessen Ende unsere Mannschaft gewinnt, haben wir Stress – aber eben positiven Stress. Hier sprechen Psychologen von Eustress.

Anders dagegen Dystress oder negativer Stress. Er wird als belastend empfunden und macht uns auf Dauer krank. Ihn gilt es also zu reduzieren.

Stress ermöglicht uns eine bessere Anpassung

Gleich ob wir eine Treppe steigen müssen oder eine neue Aufgabe im Büro vor uns liegt – immer müssen wir uns an neue Situationen anpassen. Stress aktiviert in unserem Körper Mechanismen, die uns bei der Anpassung an neue Umstände helfen. Das war früher lebensnotwendig, hilft uns aber auch heute noch im Alltag. So kann leichter Stress (z.B. Lampenfieber) helfen, die Konzentration zu steigern oder hoch zu halten.

Auch unser beruflicher Erfolg hängt wesentlich von unserer Anpassungsfähigkeit ab. Beim Umgang mit Krisen sind nicht nur Intelligenz, sondern darüber hinaus Stressresistenz in Form von Souveränität und Flexibilität gefragt.

Die Fähigkeit, sich an permanente Veränderungen anzupassen, gehört für uns zum Leben, ist Programm jeder Körperzelle. Vielleicht hilft Ihnen dieser Gedanke, wenn Ihnen die Veränderungen in Ihrem Leben gerade mal wieder über den Kopf zu wachsen scheinen.

Hadern Sie nicht mit unausweichlichen Veränderungen, sondern nehmen Sie die Herausforderung an. Je rascher wir reagieren und dadurch hinzulernen, umso rascher geht es uns wieder gut.

Stresshormone bereiten den Weg zur Stresssucht

Wenn wir in Stress geraten, werden Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, die u.a. dafür sorgen, dass wir rascher atmen, unsere Muskeln anspannen und einfach wacher sind.
Eine wichtige Rolle bei der Anpassung an Stresssituationen spielt zudem das Cortisol. Es sorgt dafür, dass vermehrt Zucker im Blut für Muskeln und Gehirn bereitgestellt wird.

Stresshormone stellen sicher, dass wir handlungsfähig sind und rasch auf eine gefährliche Situation reagieren können.

Hält Stress jedoch länger an, kommt ein anderer, nachteiliger Effekt des Cortisols zum Tragen:
Cortisol kann – ähnlich wie eine Droge – auf Dauer abhängig machen. Das Ergebnis: Unser Gehirn bevorzugt Bekanntes – unabhängig davon, ob es gut oder schlecht für uns ist. Das ist ein Grund dafür, weshalb Menschen in ihrem Leben manche Dinge und Situationen immer wiederholen, obwohl sie ihnen schaden. Auf diese Weise schaffen sie selbst wieder Umstände und Erlebnisse, die sie stressen – nur weil sie ihnen vertraut sind und ihr Gehirn darauf anspringt.

Sie stecken in einem Teufelskreis, der schwer zu durchbrechen ist. Dabei laufen diese Prozesse gänzlich unbewusst ab.

Anders als bei Drogenabhängigen, die üblicherweise wissen, dass sie sich mit ihrem Drogenkonsum schaden, ist dies für uns bei der Stresssucht deutlich schwerer zu erkennen.

Erschwerend hinzu kommt ein Gewähnungseffekt im Gehirn. So wie die Wirkung des Cortisols lässt auch die des Wohlfühlbotenstoffs Dopamin unter Dauerstress nach. Wir brauchen mehr Stress, mehr Anstrengung, andere Reize, um einen vergleichbaren Effekt zu erzielen – und treiben unser Hamsterrad weiter voran.

Warnhinwiese erkennen – kleiner Stresssuchttest

Wenn Sie wissen möchten, ob sie selbst schon in diesem biochemisch gesteuerten Teufelskreis gefangen sind, können Ihnen die folgenden drei Fragen helfen:

1. Handeln Sie angstmotiviert?

Bestimmt Angst Ihr Handeln? Geht es Ihnen in vielen Situationen darum, nichts falsch zu machen, nicht aufzufallen und niemanden zu enttäuschen? Haben Sie Angst, durch falsches Tun Ihre Arbeit oder Ihren Partner zu verlieren?
Falls ja, sollten Sie Ihre Motivation überdenken. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Wie alle negativen Gefühle schränkt auch Angst unsere Denkfähigkeit ein.

2. Denken Sie nur an sich?

In unserm Gehirn können wir zwei Bereiche unterscheiden:

  • Im älteren Bereich stehen Überleben und Selbstverteidigung im Mittelpunkt.
  • In jüngeren Hirnarealen finden Denken, aber auch Mitgefühl, Respekt und Wertschätzung gegenüber unseren Mitmenschen ihren Raum.

Halten Angst und Stress länger an oder befinden wir uns in einer extremen Stresssituation, wird unser Gehirn auf „Überleben“ gepolt. Entsprechend verlagern sich unsere Hirnaktivitäten von den jüngeren zu den älteren Bereichen.

Die Folgen spüren wir auch in unserer Einstellung gegenüber unseren Mitmenschen. Immer mehr rückt in den Mittelpunkt, was wir wollen oder wir brauchen.

Wenn also unsere Bedürfnisse immer mehr in den Fokus rücken und wir immer weniger die Konsequenzen für andere berücksichtigen, kann das ein wichtiges Warnsignal für eine erhöhte Stressbelastung sein.

3. Denken Sie eher kurzfristig?

Menschen, die unter großem Stress stehen, haben oft das Gefühl, von einer Baustelle zur nächsten eilen zu müssen. Es fehlt der Raum, an das große Ganze zu denken. Dabei geraten wichtige menschliche Eigenschaften wie vorausschauendes Denken und Weitsicht ins Hintertreffen. Immer mehr weichen sie dem für negativen Stress typischen, auf das Problem gerichteten Tunnelblick. Dadurch verlieren wir aber auch Chancen und Möglichkeiten aus den Augen, die wir noch hätten. Auf diese Weise wachsen die Probleme in unserem Kopf immer weiter und werden deutlich größer als sie in Wirklichkeit sind.

Jedes „Ja“ zu einer der 3 Fragen sollte Sie aufhorchen lassen. Dann ist es höchste Zeit für Sie zum Innehalten.

Mit 7 Fragen der Stresssucht auf der Spur

Damit Sie die 3 Warnhinweise rechtzeitig erkennen, sollten Sie sich jeden Abend fragen:

  1. Was hat mich heute angetrieben? Habe ich aus Angst oder aus Interesse gehandelt?
  2. Habe ich mich überwiegend gestresst oder entspannt gefühlt?
  3. Wie häufig war ich damit beschäftigt, Stress, Unruhe und Unsicherheit abzubauen?
  4. Wie viele Entscheidungen habe ich heute bewusst, konzentriert und in Ruhe getroffen?
  5. Gab es körperliche Warnzeichen wie Verspannungen, Kopfweh, Ohrensausen, Durchfall usw., die ich einfach beiseitegeschoben habe?
  6. Kam meine Kreativität zum Einsatz?
  7. Bin ich mit offenem Herzen auf andere zugegangen?

So können Sie Ihren Stresspegel senken

So wie Stress Ihren Cortisol-Spiegel in die Höhe treibt, können Sie ihn durch Ruhe gezielt senken. Am besten gelingt Ihnen das mit

  • ausreichend Schlaf
  • Bewegung
  • weniger Reizen (Fernsehen, Computer) – v.a. abends
  • ggf. Entspannungsübungen, wie z.B. bewusst auf den eigenen Atem achten, tief ein- und ausatmen.

Wecken Sie Ihr Wohlfühlhormon Oxytocin

Oxytozin heißt das Hormon, das Ihnen zu mehr Entspannung und Wohlbefinden verhelfen kann. Damit kann Oxytozin den Einfluss des Stresshormons Cortisol spürbar verringern.
Oxytocin bildet unser Körper nicht nur im Gehirn, sondern v.a. auch im Herzen.
Ruhe, Dankbarkeit, Vertrauen und Mitgefühl zeichnen unsere „Herzintelligenz“ aus, mit deren Hilfe wir klug, sozial und weitsichtig handeln können.
So wie Sie den Cortisol-Spiegel senken können, können Sie auch Ihren Oxytozin-Spiegel mit einfachen Tricks erhöhen.

1. Beginnen Sie jeden Tag mit Körperkontakt

Gleich ob Sie morgens noch mit Ihren Kindern oder Ihrem Partner kuscheln, Ihre Lieblingskollegin mit einer Umarmung begrüßen oder ihre Katze streicheln: Körperliche Nähe ist ein Wohlfühlspender für beide Seiten. Und falls mal niemand zur Verfügung steht, können Sie einfach Ihre Füße oder Hände massieren.

2. Spenden Sie ein Lächeln – immer wieder

Gehen Sie ruhig verschwenderisch mit Ihrem Lächeln um. Es wird zu Ihnen zurückkehren! Dabei ist es ganz einfach. Wenn Sie wachsam sind, werden Sie immer mehr Gründe zum Lächeln finden. Und selbst wenn Ihnen einmal gar nicht zum Lächeln zu Mute ist: Sogar ein unechtes Lächeln sorgt für Glücksgefühle!

3. Beschenken Sie sich mit schönen Gedanken

Schöne Gedanken können genauso gut tun wie wirkliche Erlebnisse. Das Gehirn unterscheidet nicht, ob eine Freude real oder vorgestellt ist. Diese Erkenntnis aus der Psychologie nutzen sogar Leistungssportler. Beschenken also auch Sie sich mit schönen Gedanken und Wohlbefinden.

4. Hand aufs Herz

Legen Sie einmal Ihre Hand sanft aufs Herz. Spüren Sie die beruhigende Wirkung? Mit dieser Geste stellen Sie eine Verbindung zur Herzintelligenz her und fördern den Stressabbau. So einfach können Sie Gutes für Herz, Körper, Geist und Seele tun.

5. Schauen Sie den Menschen in die Augen

Vor allem dann, wenn Sie sie kennen, das verstärkt das Gefühl der Vertrautheit und Nähe und fördert das Bindungshormon.

6. Tun Sie Gutes

Altruismus, also einfach so etwas für jemand anderen tun, führt auf Gehirnebene ebenfalls zu Entspannung und Wohlbefinden.


Stress ist ein Massenphänomen und verbreitet sich wie eine Krankheitsepidemie. Daher sind nicht nur individuelle, sondern gemeinschaftliche Lösungen gefragt. Fangen Sie bei sich an, bauen Sie Stress ab und schaffen Sie mehr Raum für Ruhe und Wohlbefinden.

Autor/en dieses Beitrages:
, aus Dresden
Kommentare
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  • alma wi, am 10.01.2023
    Meine FRAGE: wo und wie spielt hier das DOPAMIN eine Rolle??
    Sie schreiben ja über StressSUCHT.
    Bei Sucht geht es doch immer irgendwie um eine Art "Kick", der ja u.a. Dopamin 'erzeugt' - oder ? Und das Dopamin erwähnen Sie ja bei 2) auch:
    1) "Cortisol kann – ähnlich wie eine Droge – auf Dauer abhängig machen. Das Ergebnis: Unser Gehirn bevorzugt Bekanntes – ... . Das ist ein Grund dafür, weshalb Menschen in ihrem Leben manche Dinge und Situationen immer wiederholen, ... . Auf diese Weise schaffen sie selbst wieder Umstände und Erlebnisse, die sie stressen – nur weil sie ihnen vertraut sind und ihr Gehirn darauf anspringt.
    2) "Erschwerend hinzu kommt ein Gewähnungseffekt im Gehirn. So wie die Wirkung des Cortisols lässt auch die des Wohlfühlbotenstoffs Dopamin unter Dauerstress nach. Wir brauchen mehr Stress, mehr Anstrengung, andere Reize, um einen vergleichbaren Effekt zu erzielen – ... ."
    >>Das hört sich ja logisch an.
    Aber ich verstehe nicht, und erlebe es auch nicht so, wo der Kick und das Dopamin einsetzen. Ich habe (ev.chronische) generalisierte Angststörungen und tendiere zu Katastrophendenken usw. aber das immerwieder durchspielen der Angstmachenden Gedanken führt nicht zu einem Kick oder Wohlgefühl - auch nicht zu falschem Wohlgefühl wie beim Rauchen oder früher bei verbotenen Substanzen ... . Oder doch?
    • Ilona Bürgel, am 12.01.2023
      Liebe Alma, vielen Dank für Ihre Auseinandersetzung mit dem Artikel. Zunächst einmal haben Sie sich sicher schon ärztlichen Rat zu Ihrer Angststörung eingeholt. Es gibt Theorien die sagen, dass auch Angst für einen Kick sorgen kann. Doch darum geht es hier eher nicht. Sondern Angst, Unruhe, sich Sorgen machen, können eine Reaktion auf unsere Dopaminabhängigkeit sein. Wir stimulieren ständig unser Gehirn und das durch immer mehr, stärkere oder kombinierte Reize. (Beispiel: auf dem Sofa Essen, Essen und Trinken, Essen und Trinken und Fernsehen; Essen, trinken, fernsehen, Smartphone...) Dies ist in allen Lebensbereichen so. Auch Lernen zu wollen oder Gesundheit sind noch oben offene Spiralen des ständigen "nicht genug" geworden. Wir gewöhnen uns schnell an etwas angenehmes und dann haben wir das Gefühl, etwas fehlt. Dann "schreit" das Gehirn nach mehr. Weil dieser Kreislauf aus lustvollem Ereignis, Dopamin für Lust und Glück und dem Transmitter GABA für Entspannung aus den Fugen geraten ist. Wir geben uns immer mehr vom zu viel und machen keine Pausen mehr, wie es das Gehirn einmal gewohnt war. Wo einfach nichts stattfindet und es sich erholen und danach auf normale Reize reagieren könnte. So aber versucht das Gehirn, sich zu schützen, stumpft ab und wir stimulieren immer mehr. Ich empfehle das Buch "Im Teufelskreis der Lust" von Ingo Schymanski. Alles Gute!
  • Gernot, am 30.09.2016
    Liebe Frau Dr. Ilona Bürgel,
    sehr wohltuend Ihre Ausführungen!
    "Cui bono?" bringt fast immer zusätzliche Erkenntnis, über gerade die vermeintlichen oder scheinbaren "Vorteile".
    Danke.
    Gott zum Gruße!
    Gernot V. William

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