Jeder Tag ist ein Geschenk Ein Erfahrungsbericht

Dieser Artikel ist Teil eines Buchprojektes, in dem Krebspatienten und Angehörige über Ihre Erfahrungen berichten. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Beim zweiten Mal kommt das Entsetzen auf leisen Sohlen.

Zwei Wochen vor Weihnachten verabschiede ich gerade einen Handwerker am Hoftor, als Traudel aus dem Auto steigt. "Da ist ein Schatten auf der Leber", informiert sie mich im Vorübergehen. Und weg ist sie. "Nicht schon wieder!", ist meine erste Reaktion. Zwei Jahre vorher wurden ihr in einer Totaloperation die Gebärmutter mit einem Leiomyosarkom entfernt.

Fünf Tage später sitzen wir in einem kleinen dunklen Raum in einer Uniklinik. Seit einer dreiviertel Stunde starren wir abwechselnd auf die beiden Bildschirme mit der Ultraschall- und der CT-Aufnahme von Traudels Bauchraum. Inzwischen beratschlagen sich schon drei Ärzte. Bei einer so seltenen Krebserkrankung kommen Sie zu keinem Konsens. Endlich entscheidet der Professor: "Wir müssen handeln, es sieht nach einer Metastase aus!" Und sicherheitshalber soll Traudel trotz abnehmendem Konzentrationsmittel im Blut noch einmal in die Röhre für ein CT der Lunge. Schließlich ist dieses Sarkom dafür bekannt, vor allem die Lunge zu befallen. Plötzlich wird mir schwarz vor Augen, in dem kleinen stickigen Raum bekomme ich keine Luft. Ich muss mich auf die Liege legen. Die Ärzte kümmern sich um mich, geben mir etwas zu trinken. Irgendwie sehr peinlich.

Eine Stunde später beim Onkologen in der Innenstadt. Die Praxis ist sechs Tage vor Weihnachten völlig überfüllt. Die Kranken stehen in den Gängen. Banges Warten. Dann endlich im Sprechzimmer, der Arzt telefoniert noch mit seiner Arzthelferin über die Therapie einer anderen Patientin. Unsägliches fremdes Leid in Wortfetzen. Dann hat er Zeit für uns. Er will eine Biopsie vornehmen. Wir machen ihn darauf aufmerksam, dass schon der erste Tumor bei seiner Entdeckung verletzt wurde. Obwohl noch verkapselt und von Low-Grade bestand schon damals die Gefahr, dass durch die Blutung einzelne Krebszellen verschleppt werden konnten. Vielleicht entstand so nach zwei Jahren diese Metastase!? Die Entscheidung wird vertagt.

Zuhause wieder angekommen ist eine Nachricht des Onkologen auf dem Anrufbeantworter: Inzwischen seien die Lungenbefunde eingetroffen, er bittet um einen sofortigen Rückruf. Traudel ist sofort voller Unruhe. Die Lunge, bevorzugtes Ausbreitungsgebiet dieses Krebses. Ein Tumor, dem weder mit Bestrahlung noch mit Chemotherapie beizukommen ist, nur Herausschneiden hilft. Aber in der Lunge! Aus dem Internet wissen wir, das ist nahezu aussichtslos.

Telefonieren mit der Praxis: Der Arzt sei beschäftigt, er rufe zurück. Traudel hat inzwischen Todesängste. Warten auf das ärztliche Urteil. In der Zwischenzeit rufe ich über Skype Traudels Bruder in Oxford an. Er ist Professor der Chemie und in der dortigen Universität in der Krebsforschung tätig. Er rät dringend von einer Biopsie ab. Er hat einen Kollegen in Toronto konsultiert, einen Spezialisten für Leiomyosarkome. Das Verschleppungsrisiko über die Blutbahn schätzt dieser auf nahezu 10 %. Sein Rat: Diagnose und erster Therapieschritt zusammenfassen und sofort auf Verdacht operieren. Dies scheint uns nach der Erfahrung der ersten OP zwingend.

Immer noch kein Anruf vom Onkologen. Nach einer Stunde schleiche ich mit dem Handy in den Hof und rufe die Praxis an. Spreche von Traudels Todesängsten, verlange den Arzt. Die Arzthelferin beruhigt mich, ihr Chef rufe in fünf Minuten zurück. Tatsächlich klingelt bald darauf das Telefon: Er habe leider keine guten Nachrichten. Die Lungenbilder seien inzwischen da. Er fragt mich, ob meine Frau Raucherin sei. Ich verneine. Na, dann müssten wir mit vielen kleinen Metastasen in der Lunge rechnen. Er hat für den nächsten Tag um 8 Uhr schon einen Termin für die Biopsie gemacht. Ich erzähle ihm von der Einschätzung des kanadischen Kollegen. Er reagiert ungehalten und haut mir um die Ohren: „Bei einem voll metastasierten Leib kommt es auf dieses Risiko nicht mehr an!" Traudel hört Gott sei Dank nicht mit. Ich schlucke, atme tief durch und lehne die Biopsie erneut ab. Er ist wütend. Wir hätten noch ein Stunde, uns das noch einmal zu überlegen. Dann legt er auf.

Was nun? Es ist Donnerstag Spätnachmittag, nächsten Mittwoch ist Heiligabend. Jede Menge Feiertage und Urlaubszeiten stehen ins Haus. Und die Zeit drängt. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Verzweifelt recherchiere ich im Internet. In einer anderen Uniklinik in der Nähe soll es noch einen Spezialisten geben. Ich kenne aber nicht den Namen. Nach einigen Telefonaten erreiche ich endlich die Sekretärin dieses Professors H. Und oh Wunder - sie fühlt wohl meine Not - gibt sie mir für Dienstag, kurz vor dem Urlaub ihres Chefs, noch einen Termin. Ich bin unendlich erleichtert, endlich ein Lichtblick, ein Hoffnungsschimmer. Die Chance einer zweiten Meinung.

Traudel ist inzwischen erstaunlich gefasst. Irgendwie sind Frauen wohl mit dem Thema Leben und Tod vertrauter. Ich selbst kann nicht damit umgehen. Nachts wälze ich Gedanken, sehe mich schon allein durchs Leben gehen. Traudel schläft erschöpft neben mir. Am nächsten Tag beschließen wir in unserer Not: „Wir leben ab jetzt jeden Tag aufs Neue. Wir machen uns erst dann Sorgen, wenn es so weit ist. Noch ist nichts entschieden."

In der dritten schlaflosen Nacht schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Traudel hat doch seit Jahren chronische Bronchitis. Könnten die vielen Schatten auf dem CT-Bild nicht Verkalkungen dieser Entzündungen sein? Hat nicht der Lungenfacharzt vor einem Jahr davon gesprochen? Ich sitze aufrecht im Bett und beschließe, so muss es sein. Unendlich erleichtert, klammere ich mich an diesen Gedanken und schlafe augenblicklich ein.

Traudel hat sofort Vertrauen zu Professor H. Er schaut sich die mitgebrachten Bilder an. Er schüttelt den Kopf: "Das in der Lunge kann alles Mögliche sein. Auf der Leber, ja das könnte ein Sarkom sein. Er schlägt eine Operation nach seinem Urlaub Ende Januar vor. Eine Biopsie hält er für zu gefährlich, eine große Arterie führt direkt an dem Knoten vorbei, die könnte dabei verletzt werden und zu einer sofortigen Notoperation führen. Traudel ist jetzt Wachs in seinen Händen, hängt an seinen Lippen. Mich beäugt er misstrauisch, sieht in mir den durchgeknallten Ehemann. Hat wahrscheinlich Recht.

Seltsam getröstet fahren wir nach Hause. Am nächsten Abend die Weihnachtsfeier mit unseren drei erwachsenen Kindern, einem Schwiegersohn und unseren drei Alten ist sehr inniglich. Es geht sogar lustig zu, es wird viel gelacht.

In Stichworten noch der weitere Verlauf der Erkrankung:

  • Wegen einer Erkältung findet die Operation an der Leber erst im Februar statt. Es ist eine Metastase.
  • Im März eine weitere Operation eines kalten Knotens in einer der Schilddrüsen. Der Verdacht auf eine weitere Metastase bestätigt sich hier Gott sei Dank nicht.
  • Inzwischen sind drei weitere Jahre vergangen. Die Lunge hat sich in dieser Zeit nicht verändert, die vielen Schatten sind wohl wirklich Verkalkungen. Traudel muss nur noch einmal im Jahr zu einer Untersuchung der Lunge und des Abdomens. Es geht ihr gut, sie ist sehr aktiv und macht viel Sport.

Und was hat sich bei mir verändert? Ich habe mir unseren Grundsatz - aus der Not geboren – zu Eigen gemacht: „Jeder Tag ist ein Geschenk. Er wird bewusst gelebt und mit Leben gefüllt.“

Martin Beickler

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